Laut Wikipedia ist ein Essay „eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinem jeweiligen Thema. Die Kriterien streng wissenschaftlicher Methodik können dabei vernachlässigt werden.“
Und genau um ein solches (oder einen solchen) Essay geht es hier heute. Um einen Text dessen Überschrift – „Das Dilemma einer kleinen Null“ – mich neugierig gemacht hat und dessen Subtitel („Astrologie: Alles entsteht abhängig von etwas anderem„) schon die ersten Fragezeichen aufwirft. Für mich. Zumindest! Und wenn es dann losgeht – mit dem Text natürlich – dann wecken gleich die ersten beiden Worte durchaus gespannte Erwartung in mir, denn der Text beginnt mit
Ach wie spannend! Eine Definition der Astrologie! OK, Essay – also wird es wohl eine eher subjektiv gefärbte „Definition“ sein. Wie wird diese wohl aussehen? Ähnlich wie in der Wikipedia? Wird dort in irgend einer Form stehen, dass die Astrologie „Zusammenhänge zwischen Positionen und Bewegungen von Himmelskörpern und Ereignissen im irdischen Bereich“ postuliert oder – wegen der Subjektivität der Autorin – doch wirklich beschreibt? Wird es Belege hageln? Eindeutig! Unwiderlegbar! Oder vielleicht doch nicht? Also schnell weiterlesen:
OK, als Definition der Astrologie taugt das jetzt nicht allzu viel. Alleine der erste Satz – was soll der bedeuten? Eine Kette, die zu Gründen führt wieso sich etwas ändert – oder eben nicht? Nun ja, wie war das noch? Essay! Persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema! Vielleicht kommt da ja noch was! Weiter geht es übrigens so (und ab jetzt lass‘ ich das mit den Screenshots):
Immer aber entsteht am Ende (oder war es am Anfang?) ein ganz anderes Bild. Eine Meinung, die aus einem riesigen Raum von Zeichen, Zahlen oder Bedeutungen aufsteigt, den das Universum uns anbietet. Diese große, rote Sonne des: Es IST. Deren erster Strahl wiederum einen noch größeren Raum erhellt, die ganze, weite Welt, von sehr kleinen Menschen bewohnt. Alles Verhältnismäßigkeit. Alles abhängig. Sie leben. Sie denken. Mit ihren Möglichkeiten und Grenzen tanzt, ohne Unterbrechung, ohne Sammlung, ohne Verlust, unser kleiner Raum namens Astrologie. Er erfindet, innerhalb jenes endlosen, wunderbaren, ANDEREN Raumes (namens Universum), unsere Sicht neu. Webt ein Netz, das sich vervielfältigt und junge, frische Pulsschläge des Kosmos zählt.
Wow! Ein Raum namens Astrologie tanzt, erfindet irgendeine Sicht neu und webt ein Netz – Bilder, die zwar nichts erklären, mich aber wegen ihrer inhaltsleeren Schwurbeligkeit durchaus faszinieren (… das ist natürlich auch sehr subjektiv) – oder doch eher erheitern? Letzteres! Und ja! Kann ich auch! „Sätze“ aus wenigen Worten schreiben!
Kopiert man den gesamten Text in ein handelsübliches Textverarbeitungsprogramm erhält man ungefähr sieben Seiten (incl. Bilder), in denen die Autorin wortreich zeigt, dass ihre persönlichen Definitionen und ihr persönliches Verständnis bestimmter Begriffe zumindest als eigenwillig bezeichnet werden müssen. So kommt es zu Sätzen wie dem folgenden:
Realität ist eine demokratische Entscheidung, die Schnittmenge von Milliarden einsamer Bewusstseins-Wesen.
Äh tatsächlich? Realität ist eine Mehrheitsentscheidung? Und wenn sich die Mehrheit entscheidet, dass die Sonne sich gefälligst um die Erde zu drehen hat, dann tut sie das auch? Im Kopf der Autorin vielleicht, und genau so subjektiv wird auch die Astrologie „begründet“:
Aha, die Tage werden mir lang. Wenn da mal kein Magier seine Hand im Spiel hat! Es muss an den Gestirnen liegen. Und, siehe da. Plötzlich fühlten Menschen sich besser. Es wurde warm, im Monat Mai. Die angenehme Zeit des Jahres begann. Stier war geboren.
Dumm nur, wenn ich das als Neuseeländer, Uruguayaner oder Feuerländer lese – da wurde und wird es im Mai nämlich kalt! Und zwar richtig! Die eisige, unangenehme Zeit beginnt.
Viel, viel später erst wurde ein Reim für alle daraus, jene alte, mutige Wissenschaft, die Mutter aller Abstrakta, die noch heute als Spiegel tausendfacher Lebensmuster wirkt. Astrologie.
Eine „mutige“ „Wissenschaft“? Die Dame macht sich sogar Gedanken darüber wie es wäre, wenn Astrologie irgendwie zu den Wissenschaften zählen würde und meint:
Alles andere ist sonnenklar: Wenn wir, die unfeierlich Ausgegrenzten, zu ihnen gehörten, den Wissenden, den amtlich attestierten Weisen, den Erfindern des kultivierten Daseins, würde vermutlich auch bei uns, die wir über alles und nichts miteinander diskutieren, keine Krähe mehr der anderen ein Auge aushacken. Wir wären im Nachteil. An-erkannt zu-erkannt. Der Prüfung unserer Erkenntnisse an der Wirklichkeit enthoben, wie alle, die das Branding haben: Wissenschaft.
Was für ein hanebüchener Schwachsinn! Jede Erkenntnis, die die Prüfung an der Wirklichkeit nicht besteht, wird im Mülleimer der Wissenschaftsgeschichte entsorgt. So einfach ist das! Klar, manchmal dauert das, weil zum Beispiel die zur Prüfung der Erkenntnis notwendigen Werkzeuge noch nicht vorhanden sind. Aber hat „die Wissenschaft“ damit Probleme? Nein! Ganz im Gegenteil! Und wenn sich zeigt, dass ein ganzes Fachgebiet eben nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, dann verschwindet es aus dem wissenschaftlichen Kanon. Astrologie wurde einstmals an Universitäten gelehrt – bis man merkte, dass dieses Hilfsmittel zur Beschreibung der Realität unbrauchbar war.
Was folgt sind seitenweise weitere Belege dafür, dass die Autorin von Wissenschaft – und insbesondere Mathematik – nicht einmal im Entfernsten den Hauch einer Ahnung hat. Mein Lieblingssatz findet sich übrigens in folgendem Abschnitt:
Ohne Respekt vor der Existenz von Zahlen funktioniert die Mathematik nämlich erst gar nicht. Trotzdem verlangte nie einer von Adam Riese, das Dasein der Zahl 714 oder 3165 erst einmal gründlich zu beweisen, bevor er seine Practica verfaßte und aufstieg in den Olymp der Rechengötter. Auch die binomischen Formeln hat noch keiner als „Aberglaube“ identifiziert und dingfest gemacht. Weil sie – natürlich – auf Annahmen, nämlich erfundenen Variablen oder Werten, fußen. Und das, obwohl sie und ihre Formelbrüder und -schwestern allesamt vom Menschen erdacht und nur innerhalb des Systems der Mathematik beweisbar sind.
Das mit den binomischen Formeln, an die man glauben müsse, ist nur eine von vielen lustigen Sequenzen. Erinnert mich an einen sehr schönen Dialog aus dem Buch „Odile“ von Raymond Queneau. Der Protagonist, Hobby-Mathematiker und ich-Erzähler spricht mit einem Bekannten namens Saxel – und erklärt die Auflösung von Gleichungen ersten und zweiten Grades. Saxel glaubt etwas verstanden zu haben …
Meine Intelligenz wird unheimlich: die Quadratwurzel. Die Quadratwurzel, das ist das Bemerkenswerte. Und ich sehe auch worauf sie hinaus wollen: das ist klar, das ist einfach, das ist schön. Für die Gleichung dritten Grades muss man eine Kubikwurzel ziehen, für die Gleichung vierten Grades eine vierte Wurzel und für die Gleichung fünften Grades eine fünfte Wurzel und für die Gleichung sechsten Grades eine sechste Wurzel und so fort. Das ist logisch! Logisch einfach, nicht wahr?
Nein, vom fünften Grad an stimmt nämlich nichts mehr.
Aber wieso denn das?
Es ist unmöglich, Gleichungen über den vierten Grad hinaus algebraisch aufzulösen, ausgenommen ganz besondere Fälle. Die allgemeine Gleichung lässt sich nicht ausführen.
Man weiß eben nicht wie’s gemacht wird
Man beweist es.
Das ist ja skandalös.
Aber weiter zum Schwurbeltext dieser Frau. Sie schreibt:
Astrologie funktioniert.
Wer hätte gedacht, dass eine Astrologin solcherlei behauptet?
Das ist das große, verrufene Wunder für die, die um sie wissen. Zu denen übrigens auch ich gehöre.
Welch Überraschung! Aber dem nächsten Kurzsatz …
Deshalb heisst es Wissenschaft.
… muss ich dann doch heftig widersprechen. Es ist eben keine Wissenschaft – auch wenn man für die Deutung eines Horoskops sehr viel „Wissen“ erwerben muss. Wenn ich alle Ergebnisse, alle Torschützen, alle Spielverläufe der Fußball-Bundesliga auswendig kennen würde, dann wäre das noch lange kein Beleg für irgend einen fußballerischen Sachverstand (den ich mangels Interesse definitiv nicht habe) – bestenfalls könnte ich damit zeigen, dass ich eine Menge unnützes Wissen in meinem Gehirn speichern kann.
Auch die Psychologie kriegt natürlich ihr Fett weg …
Obwohl sich unsere Arbeit, das Stiefkind der Forschung, häufig viel greifbarerer Parameter bedient, als beispielsweise diese kleine Schwester Psychologie, die mit dem gewichtslosen Pfund der Seele hantiert, fehlt uns immer noch die Eintrittskarte in den Dom der universitären Glaubens-Systeme.
… und mit den Quanten lässt sich immer gut schwurbeln:
Waren Astrologen lange der Ansicht, dass sich ihre Berufung eigentlich (im Sinne einer eher schlampigen Argumentation) über Koinzidenzen (oder Synchronizitäten) erklärt (Saturn macht einen 180-Grad-Winkel zum Mars und ich habe – kausal unabhängig davon – einen bösen Unfall), unterstützen neuere quanten-mechanische oder -technische oder -physikalische Forschungen der anerkannten Naturwissenschaft inzwischen auch wieder eine sehr alte, fast abergläubische Annahme. Die Planeten selbst könnten tatsächlich Wirkungen auf den menschlichen Organismus ausüben. Wenn es also wahr sein sollte, dass Lichtjahre entfernte Protuberanzen auf der Sonnenoberfläche an Akupunkturpunkten auf menschlichen Versuchsobjekten direkt den Hautwiderstand beeinflussen, wäre all das natürlich drin.
Wobei die Sonne natürlich nicht allzu viele Lichtjahre von uns entfernt ist – und das mit den Akupunkturpunkten ist mindestens bullshit hoch 9.
Weitere Beispiele erspare ich mir jetzt. Dieser Text ist wirklich eine absolute Meisterleistung! Die Menge der Abschnitte, aus denen man keinen vollkommen lächerlichen, total verschwurbelten Bullshitsatz extrahieren kann ist genau Null! Deswegen wohl auch die Überschrift („Das Dilemma einer kleinen Null„). Erschienen ist das übrigens vor einiger Zeit in dieser astrologischen Onlinepostille.
Da die Autorin ihren Text unter dem Kürzel „sri“ veröffentlicht hat könnte man auf die Idee kommen, dieses „sri“ in Zukunft als Maß für solcherlei Bullshitschwurbelei zu definieren. Ich würde diesem Essay 100 sri für den durchschnittlichen Bullshitfaktor pro ausgedruckter Seite geben, als Referenzwert sozusagen (… wozu die formalen Besonderheiten des Textes durchaus mit beitragen). Kennt jemand einen Text mit noch mehr „sri„?
Letzte Kommentare